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7 Blickwinkel der Gewaltprävention – Teil 2: Der Aggressor

7 Blickwinkel der Gewaltprävention – Serie von Günther Pfeifer

Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie zu den 7 Blickwinkeln der Gewaltprävention. Im ersten Teil haben wir uns ausführlich mit der Sicht des Betroffenen beschäftigt und analysiert, warum Menschen in die Erstarrung gehen.“

Ein Tag, der lange vor der Tat begonnen hat

Gewalt entsteht selten im Moment des Schlages. Sie beginnt in einem Menschen, oft Wochen oder Monate vorher – lange bevor andere etwas bemerken.

Bei Daniel war es genau so.

Sein Tag hatte schlecht begonnen. Die Nacht war hart gewesen – die Kinder unruhig, er übermüdet, nervlich am Anschlag.

Am Frühstückstisch dann die Worte seiner Frau:

„Du bist nicht mehr wirklich da. Und ich halte das nicht mehr aus.“

Keine Vorwürfe. Nur Müdigkeit. Und Wahrheit.

Im Job lief es ebenfalls nicht gut. Daniel war früher gewissenhaft gewesen, doch zuletzt häuften sich Fehler, Versäumnisse, Aussetzer. Seine Chefin hatte ihn beiseite genommen, freundlich, aber klar:

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung? Sie wirken überlastet.“

Er lächelt, wie man es gelernt hat. „Alles gut.“

Doch alles ist nicht gut.

Abends greift er zur Flasche. Nicht, um zu feiern, sondern um zu dämpfen – Stress, Druck, Gedanken. Betäubung statt Lösung.

Kleine Kränkungen summieren sich: ein ungeduldiger Kunde, ein abwertender Blick, Ungerechtigkeiten, Missverständnisse. Es sind Kleinigkeiten – aber viele Kleinigkeiten werden schwer.

Und während er nach Hause geht, spürt er das, was er nicht benennen kann:

ein innerer Druck, der keinen Ausweg findet.

Der Tropfen, der alles kippen lässt

Thomas – gedanklich noch bei seiner Arbeit – streift ihn zufällig. Ein normaler Alltagsmoment, nichts Besonderes.

Doch in Daniels überladenem System durchschlägt dieser kleine Kontakt wie ein Funke ein übervolles Fass.

In ihm explodiert ein Satz:

„Der sieht mich nicht mal. Wie alle anderen.“

Das ist kein bewusster Gedanke – es ist eine emotional gelernte „Wahrheit“: nicht gesehen, nicht respektiert, nicht wertvoll.

In Sekunden entsteht eine Wahrnehmungsverzerrung. Sein Gehirn sucht nicht mehr die Realität, sondern eine Bestätigung für seine innere Ohnmacht.

Und dieser neutrale Kontakt wird zur „Provokation“.

Das Nervensystem übernimmt – Kampf statt Denken

In diesem Moment reagiert Daniel nicht mehr mit dem Kopf. Sein Körper übernimmt:

  • Der Puls schießt nach oben.
  • Die Atmung wird flach und hektisch.
  • Die Muskeln spannen sich reflexartig an.
  • Das Blickfeld verengt sich zu einem Tunnel.
  • Adrenalin überflutet den Körper.

Es ist kein klarer Entschluss: Es ist ein Überlebensprogramm.

Thomas wird zur Projektionsfläche für Daniels gesammelte Ohnmacht. Für all das, was ihn quält, beschämt, überfordert.

Und dann passiert es.

Ein Schlag. Hart. Unkontrolliert. Nicht geplant – sondern entladen.

Für Daniel fühlt sich dieser Schlag in der Sekunde wie „Handlung“ an. Wie Kontrolle. Wie ein Moment, in dem die Ohnmacht bricht.

Doch das Gefühl hält nicht.

Die unmittelbare Nachwirkung – Erleichterung, die ins Leere fällt

Nach dem Schlag entfernt Daniel sich rasch. Er möchte weg – vom Ort, von Thomas, von dem, was er getan hat.

Doch statt Erleichterung kommt etwas anderes:

  • Zittern
  • Übelkeit
  • Kälte in den Händen
  • Druck in der Brust
  • Unruhe, die nicht abklingt

Sein System ist erschöpft, überhitzt, überladen.

Und dann kommt der Gedanke, der tief trifft:

„Ich bin nicht mehr ich selbst.“

Die Festnahme – Realität holt ihn ein

Daniel geht nur wenige Gehminuten weiter. Dann hört er Schritte, Stimmen, Befehle.

„Polizei! Stehenbleiben!“

Er friert kurz ein. Dann geht er schneller.

Doch die Beamten sind sofort bei ihm. Eine klare, ruhige Stimme, eine Hand an seiner Schulter.

„Hände aus den Taschen. Langsam.“

Ein zweiter Beamter greift zu. Handschellen. Kalt. Schwer. Unmissverständlich.

„Sie sind vorläufig festgenommen wegen des Verdachts der Körperverletzung.“

Daniel senkt den Kopf. Sein Körper zittert. Die Realität bricht über ihn hinein.

Als er in den Streifenwagen gesetzt wird, sieht er Thomas – verletzt, versorgt, blass.

Und ihm wird klar: Der Moment hat mehr zerstört als nur einen Heimweg.

Analyse: Warum Menschen zu Aggressoren werden

(Eine fachliche Einordnung aus Sicht der Gewaltprävention)

Gewalt entsteht selten aus reiner Boshaftigkeit. Sie entsteht aus einer gefährlichen Mischung aus Stress, Ohnmacht, Überforderung und fehlender Emotionsregulation.

Am Beispiel von Daniel werden zentrale Mechanismen deutlich:

1. Chronischer Stress verändert das Gehirn

Unter Dauerbelastung werden die Bereiche geschwächt, die für:

  • Impulskontrolle,
  • rationales Denken,
  • klare Entscheidungen

zuständig sind. Gleichzeitig wird das Stresszentrum (Amygdala) überaktiv.

Das Ergebnis:

  • Überempfindlichkeit,
  • Wahrnehmungsverzerrungen,
  • Kampfprogramme, die zu früh anspringen.

2. Ohnmacht sucht sich ein Ventil

Daniel steht unter Mehrfachbelastung:

  • private Krise,
  • berufliche Überforderung,
  • Schlafmangel,
  • Alkohol,
  • Schuldgefühle und Scham.

Wenn mehrere Lebensbereiche gleichzeitig instabil werden, sucht der Mensch unbewusst nach „Kontrolle“.

Gewalt ist dann ein kurzer, falscher Versuch, Ohnmacht zu kompensieren – mit hohen Kosten für alle Beteiligten.

3. Wahrnehmungsverzerrungen als Brandbeschleuniger

Psychologisch nennt man das:

hostile attribution bias – die Tendenz, neutrale oder mehrdeutige Signale als feindlich zu interpretieren.

Ein zufälliges Streifen wird zur Provokation.
Ein Blick wird zur Missachtung.
Ein Achselzucken wird zur Bedrohung.

Das passiert nicht, weil Daniel „böse“ ist – sondern weil sein System überlastet ist.

Sein Blickfeld verengt sich zu einem Tunnel. Dieses Phänomen ist ein typisches Merkmal der Überlastung unter Druck. Wie man diesen Tunnelblick im Ernstfall durchbricht, erkläre ich im Detail in einem separaten Beitrag.“

4. Fehlende Emotions- & Stressregulation

Daniel kennt nur zwei Reaktionsmuster:

  • Schlucken – alles in sich hineinfressen.
  • Explodieren – wenn der Druck zu groß wird.

Dazwischen fehlt ihm alles, was Menschen stark macht:

  • Atemregulation,
  • Selbstwirksamkeit,
  • Konfliktfähigkeit,
  • Wahrnehmung eigener Bedürfnisse,
  • soziale Unterstützung,
  • Werkzeuge zur Spannungsreduktion.

Diese Lücke ist ein Kernproblem moderner Gewalt.

5. Alkohol als falscher Helfer

Daniel trinkt nicht, um mutig zu werden. Er trinkt, um zu vergessen.

Alkohol:

  • senkt die Impulskontrolle,
  • steigert Aggression,
  • blockiert emotionale Verarbeitung,
  • verschlechtert Schlaf und Regeneration,
  • verstärkt depressive Tendenzen.

Er betäubt – aber löst nichts.
Er verschiebt das Problem und macht den Menschen unberechenbarer.

Was Daniel hätte anders machen können – ohne Entschuldigung

Diese Frage dient nicht der Rechtfertigung – sondern der Prävention.

1. Frühwarnsignale ernst nehmen

Daniels Körper hat ihm Wochen vorher signalisiert:

  • Schlafprobleme,
  • körperliche Unruhe,
  • Gereiztheit,
  • Leistungsabfall,
  • Rückzug,
  • Spannung in Schultern und Kiefer.

Diese Zeichen zu ignorieren ist gefährlich. Sie sind keine „Schwäche“, sondern Notrufe des Nervensystems.

2. Stress früh regulieren

Statt Verdrängung braucht es:

  • Bewegung und Training,
  • bewusste Atemtechniken,
  • offene Gespräche,
  • klare Grenzen im Alltag,
  • bei Bedarf auch professionelle Hilfe.

Stress bricht nicht plötzlich aus – er baut sich auf.

3. Alkohol kritisch hinterfragen

Betäubung ist kein Ausweg. Wer merkt, dass Alkohol zum alltäglichen Begleiter im Stress wird, braucht andere Strategien – sofort.

4. Konflikte früh ansprechen

Seine Frau, seine Chefin – beide haben Hinweise gegeben. Das waren Chancen für Veränderung.

Ehrlichkeit hätte Daniel Handlungsspielraum gegeben. Das Muster „Alles gut“ hält Fassade, aber zerstört Stabilität.

5. Emotionsregulation lernen

Emotionsregulation ist keine Schwäche, sondern eine Schlüsselkompetenz.

Wut, Ohnmacht und Scham sind starke Emotionen. Wer sie nicht einordnen kann, verliert sich darin – oder lässt sie sich einen Weg nach außen suchen.

Warum dieser Blickwinkel entscheidend für Prävention ist

Gewaltprävention bedeutet nicht nur, Betroffene zu schützen. Sie bedeutet auch:

  • Mechanismen von Gewalt zu verstehen,
  • Eskalationswege früh zu erkennen,
  • in Alltag und Beruf rechtzeitig gegenzusteuern,
  • Menschen zu stärken, bevor sie zu Tätern werden,
  • Verantwortung klar zu benennen – ohne zu moralisieren.

Daniel ist kein Einzelfall. Er ist ein Beispiel dafür, wie Gewalt entsteht:

  • nicht plötzlich – sondern schleichend,
  • nicht immer bewusst – aber verantwortbar,
  • nicht aus dem Nichts – sondern aus Mustern, die man erkennen kann.

In meinen Trainings zu Selbstschutz, Deeskalation und Gewaltprävention arbeite ich genau mit diesen Mechanismen. Ziel ist es, Menschen in Behörden, sozialen Einrichtungen, Gesundheitswesen und Unternehmen dafür zu sensibilisieren:

  • Frühwarnsignale zu sehen – bei sich selbst und bei anderen,
  • Stressreaktionen des Körpers zu verstehen,
  • unter Druck klarer zu entscheiden,
  • Eskalationsschrauben rechtzeitig zu stoppen.

Gewalt ist keine Naturgewalt. Sie ist ein Prozess. Und Prozesse kann man unterbrechen.

Ausblick auf Teil 3 – Der Blick der Polizei

Im nächsten Teil betrachten wir die Szene durch die Augen der Polizei:

Du wirst sehen, wie Einsatzkräfte dieselbe Situation völlig anders erleben – und warum ihre Sicht für echte Gewaltprävention unverzichtbar ist.

Suchst du ein fundiertes Konzept für Selbstschutz, Konfliktmanagement oder Gewaltprävention?
👉 Mehr dazu findest du auf meiner Webseite: www.guenther-pfeifer.de


Über den Autor

© 2025 Günther Pfeifer · Alle Rechte vorbehaltenTags: Gewaltprävention Bürgerservice, Stadtverwaltung, Deeskalation, öffentlicher Dienst, Sicherheit Mitarbeitende

 

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Günther Pfeifer - Dein persönlicher Trainer
Mein Name ist Günther Pfeifer und ich biete Selbstverteidigungskurse, Gewaltprävention und Personal Training an. Für alle Bereiche bin ich ausgebildet und zertifiziert. Darüber hinaus verfüge ich über einen umfangreichen Erfahrungsschatz aus einer langjährigen Berufspraxis.