Teil 1: Der Blick des Betroffenen
Fallbeispiel: Ein normaler Heimweg – und der Moment, der alles verändert
Es war kein besonderer Ort. Keine dunkle Gasse. Kein Brennpunkt. Kein „gefährliches Viertel“.
Ein gewöhnlicher Heimweg nach der Arbeit. Einer von vielen.
Gerade deshalb ist dieser Fall so wichtig.
Denn Gewalt beginnt heute nicht mehr nur dort, wo man sie erwartet. Sie entsteht mitten im Alltag – dort, wo Menschen sich sicher fühlen sollten.
Der Betroffene – nennen wir ihn Thomas – ist Anfang vierzig. Berufstätig. Unauffällig. Einer, bei dem niemand sagen würde: „Der zieht Ärger an.“
Er ist keiner, der ständig Angst hat. Keiner, der übervorsichtig lebt.
Seine Gedanken sind noch bei der Arbeit. Bei einem Gespräch vom Nachmittag. Bei einer Mail, die ihm nicht aus dem Kopf geht.
Sein Körper läuft auf Autopilot.
Bis zu diesem Moment.
Nicht laut. Nicht dramatisch. Nicht eindeutig.
Nur dieses leise, kaum greifbare Gefühl:
Irgendetwas stimmt hier nicht.
Kein klarer Gedanke. Kein Satz, den er hätte formulieren können.
Nur eine unterschwellige Veränderung im Körper. Ein kurzes inneres Ziehen.
Und wie so oft tut er das, was viele tun:
Er ignoriert es.
Nicht aus Leichtsinn. Sondern weil wir lernen, solche Impulse kleinzureden. Weil wir gelernt haben, nicht „überempfindlich“ zu sein.
Er geht weiter.
Zwei Schritte. Dann drei.
Dann passiert es.
Ein plötzlicher Übergriff. Kein Raub. Keine Vorwarnung. Keine Worte.
Gewalt.
Und in dieser Sekunde beginnt etwas, das tiefer geht als jede äußere Verletzung: Der Angriff auf seine innere Kontrolle.
Was im Menschen passiert – wenn Angst real wird
Nicht mit Verstand. Sondern mit Überlebensprogrammen.
Sein Herzschlag schießt nach oben, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
Nicht dieses normale Pochen, sondern ein hartes, drängendes Schlagen gegen die Brust. Zu schnell. Zu intensiv. Zu unkontrolliert.
Seine Atmung wird flach. Er bekommt Luft – aber sie fühlt sich nicht mehr wie Atem an. Eher wie etwas Kaltes, Unzureichendes.
Sein Körper weiß in diesem Moment etwas, was sein Verstand noch nicht greifen kann:
Das hier ist nicht mehr nur unangenehm. Das ist gefährlich.
Sein Blick verändert sich.
Das Sichtfeld zieht sich zusammen. Wie durch einen engen Tunnel.
Er nimmt nur noch das wahr, was direkt vor ihm geschieht. Alles andere verliert an Bedeutung. Die Welt wird kleiner. Enger.
Und in diesem Tunnel ist etwas sehr deutlich:
Angst.
Nicht Filmangst. Nicht dramatische Panik.
Sondern eine schwere, körperliche Angst. Dicht. Existentiell.
Nicht nur vor dem Schmerz. Sondern vor Kontrollverlust. Vor dem Gefühl, dass dieser Moment nicht mehr aufzuhalten ist.
Sein Magen zieht sich zusammen. Ein harter Knoten entsteht im Bauch.
Sein Denken zerbricht in Fragmente:
„Was passiert hier?“
„Ich kann das nicht steuern.“
„Ich bin gerade nicht mehr sicher.“
Sein Zeitgefühl verliert sich. Sekunden dehnen sich. Alles wirkt gleichzeitig zu schnell und zu langsam.
Und in diesem Zustand zwischen Präsenz und Überforderung kommt kein Kampf. Keine Flucht.
Sondern etwas anderes.
Erstarrung – wenn das System sich selbst schützt
Sein Körper erstarrt.
Nicht sichtbar wie eine Statue. Sondern innerlich.
Die Muskeln spannen an – aber sie bewegen sich nicht.
Der Wille zu handeln ist da – doch er erreicht den Körper nicht.
Es ist, als hätte sein System den Zugriff auf sich selbst gesperrt, um nicht unter der Überlastung zusammenzubrechen.
Nicht aus Schwäche. Sondern aus Überforderung.
Zu viele Reize. Zu viel Bedrohung. Zu wenig Zeit.
Er spürt den Schmerz.
Nicht wie einen klaren Stich. Sondern wie ein dumpfes Signal aus der Tiefe seines Körpers, das ihm nur eines sagt:
Du bist gerade nicht mehr unversehrt.
Der Schmerz kommt in Wellen. Mal näher. Mal weiter weg.
Fast so, als würde sein Körper ihn dämpfen, damit er nicht zerbricht.
Und gleichzeitig wächst etwas schneller als der Schmerz:
Angst.
Nicht nur vor dem, was gerade passiert. Sondern vor dem, was noch passieren könnte.
Diese Angst brennt sich ein.
Nicht die Bewegung. Nicht der Stoß.
Sondern das Gefühl völliger Ausgeliefertheit.
Nach dem Übergriff: Wenn Hilfe kommt
Irgendwann ruft jemand die Polizei. Irgendwann wird der Rettungsdienst verständigt.
Blaulicht flackert an den Hausfassaden. Ein kaltes Licht, das die Realität zurückholt.
Der Rettungswagen hält.
Ruhige Stimmen. Sachlich. Professionell.
„Können Sie mich hören?“
„Wo tut es weh?“
„Bleiben Sie bitte sitzen.“
Thomas antwortet. Mechanisch. Fast wie von außen ferngesteuert.
Sein Körper steckt noch im Schock. Sein Nervensystem läuft noch im Notbetrieb.
Er ist plötzlich „der Betroffene“. Nicht mehr einfach ein Mensch auf dem Heimweg. Sondern ein Fall.
Und genau hier beginnt der Teil, über den kaum gesprochen wird:
Die innere Verarbeitung.
Analyse: Warum er sich nicht gewehrt hat
Die häufigste Frage lautet:
„Warum hat er sich nicht gewehrt?“
Die ehrliche Antwort ist fast nie: „Weil er nicht wollte.“
Sondern:
1. Das Nervensystem entscheidet
Unter akuter Bedrohung entscheidet nicht der Verstand, sondern das autonome Nervensystem.
Drei Grundreaktionen:
- Kampf
- Flucht
- Erstarrung
Thomas’ System ist in die Erstarrung gegangen, weil die Situation als zu schnell, zu unkontrollierbar, zu bedrohlich eingestuft wurde.
Das ist kein Versagen. Es ist ein biologischer Schutzmechanismus.
2. Angst blockiert Bewegung
In solchen Momenten ist Angst keine „gewöhnliche Emotion“. Sie ist ein Zustand.
Das Denken wird eingeschränkt. Der Zugriff auf Bewegung reduziert. Handlungen brechen ab.
Nicht, weil jemand unfähig ist, sondern weil das System überlastet ist.
3. Die Lücke im Training: Mentale Stressgewöhnung
Thomas hat nicht vergessen, eine Technik anzuwenden.
Ihm fehlte die innere Vorbereitung auf extreme Bedrohung.
Sein autonomes Nervensystem war auf diesen Moment nicht vorbereitet.
Drei entscheidende Punkte:
- Der Streichholz-Moment: Er ignorierte seine Frühwarnsignale.
- Die Erstarrung durch Überforderung: Er hatte keine mentale Stressgewöhnung trainiert, um den Freeze zu durchbrechen.
- Das fehlende Narrativ: Er kannte die biologischen Notfallprogramme seines Körpers nicht. Dieses Wissen allein hätte ihm später geholfen, sich nicht als Versager zu fühlen.
Die gefährliche Illusion: „Warum gerade ich?“
Der größte Feind von Prävention ist der Gedanke:
„Mir passiert so etwas nicht.“
Wir schützen uns psychologisch, indem wir Gefahren auf andere projizieren. Das beruhigt – verhindert aber Vorbereitung.
Diese Illusion führt zu:
- Verleugnung von Risiko: Frühwarnsignale werden ausgeblendet, weil sie die Illusion von Sicherheit stören.
- Schuldzuweisung an Betroffene: Man sucht Gründe, warum es „den anderen“ getroffen hat – um sich selbst zu beruhigen.
- Dem Trugschluss einer gerechten Welt: Die Vorstellung, dass „guten Menschen“ nichts Schlimmes passiert, ersetzt aktive Vorsorge durch passives Hoffen.
Gewaltprävention muss diese Illusion durchbrechen. Nicht durch Angst. Sondern durch Realismus und Handlungssicherheit.
Innerer Halt entsteht nicht durch Verdrängung – sondern durch Vorbereitung.
Was hätte er anders machen können – ohne Schuld
Es geht hier nicht um Vorwürfe. Sondern um Lernpunkte.
Nicht jede Situation lässt sich verhindern. Aber viele lassen sich früher beeinflussen.
1. Den Streichholz-Moment ernst nehmen
Thomas hatte ihn. Diesen kurzen inneren Impuls:
„Hier stimmt etwas nicht.“
Prävention beginnt genau dort – bevor die Situation kippt. Solange noch Handlungsspielraum vorhanden ist.
2. Stressreaktionen vorher trainieren
Techniken funktionieren nur, wenn das Nervensystem nicht kollabiert.
Deshalb braucht es:
- Stressgewöhnung
- Wahrnehmungsschulung
- Entscheidungstraining unter Druck
Nicht, um unverwundbar zu werden. Sondern um handlungsfähig zu bleiben.
3. Innere Kontrolle vorbereiten
Wer versteht, wie sein Körper unter Bedrohung reagiert, erlebt weniger Kontrollverlust.
Dieses Wissen ist kein Luxus. Es ist die Basis für innere Stabilität.
Warum dieser Blickwinkel entscheidend ist
Der Blick des Betroffenen zeigt keine Schwäche. Er zeigt Realität.
Und genau deshalb ist es entscheidend, Menschen nicht erst im Ernstfall zu stärken, sondern vorher.
In meinen Schulungen für Selbstschutz vermittle ich keine reinen Abwehrtechniken, sondern praxisnahe Strategien zur Stressregulation, Wahrnehmungsschulung und zur Aufrechterhaltung von Handlungssicherheit unter Belastung.
Ziel ist es, Eskalationen frühzeitig zu erkennen – und handlungsfähig zu bleiben, wenn Situationen kritisch werden.
Gewaltprävention beginnt nicht beim Schlag. Sondern bei der inneren Vorbereitung.
Ausblick auf Teil 2
Im nächsten Teil geht es um den Blick des Aggressors.
Nicht um ihn zu entschuldigen. Nicht um ihn zu rechtfertigen.
Sondern um zu verstehen, wie Gewalt entsteht – und wo Prävention ansetzt, bevor aus Spannung Tat wird.
Über den Autor
Suchst du ein fundiertes Konzept für Selbstschutz, Konfliktmanagement oder Gewaltprävention?
👉 www.guenther-pfeifer.de
Willenskraft und Einstellung: Schlüssel zum Selbstschutz-Training.
Selbstschutz – Erkennen, Einschätzen und Handeln in gefährlichen Situationen
Einbrüche, Gewalt und Mobbing: Psychische Stressoren, die die Sicherheit im Alltag gefährden